Donnerstag, 8. Oktober 2020

... der Sommer war sehr groß

leg Deinen Schatten auf die Sonnenuhren 

und auf den Fluren 

laß die Winde los... 

Der Herbsttag von Rilke ist ein Gedicht, das mich seit vielen, vielen Jahren begleitet und in diesem Jahr trifft es genau auf den kleinen Hof Hargo Talu in Estland zu. 

Fenster in der Bismarck-Kolonie

Die Idee eines alten Freundes, endlich die von mir immer wieder erträumte Reise ins Memelland zu Wirklichkeit werden zu lassen, konnte endlich umgesetzt werden. Nach seiner plötzlichen Absage fuhr ich allein, der uralte rote Geländewagen begleitete mich mit seinem dröhnenden Dieselmotor und die wenigen Tage waren für mich intensiv und ich bin immer noch dankbar für die vielen bewegten Augenblicke dort. Es würde den Rahmen eines kleinen Blogs sprengen, darüber schreiben zu wollen, so verfasse ich nun schon seit Wochen einen Reisebericht, der immer mehr zu einer ganz großen Aufgabe zu werden scheint und mir die Stimmung dieses kleinen Abenteuers wieder und wieder ins Gedächtnis ruft. 

 

6 neue Unterstände sind fertig
Kaum zurück auf dem Hof war bereits der letzte der alten Unterstände abgebrochen und mit der üblichen Nervosität und Unsicherheit, die solch große Projekte unweigerlich mit sich bringen, beobachtete ich den Aufbau der beiden ihn ersetzenden Gebäude. Die problematischen Bestellungen von Baumaterial und tagelange Regengüsse behinderten die Arbeiten, aber schließlich war es soweit und ich durfte den Pinsel schwingen. Inzwischen ist die Beleuchtung fertig, sind die übrig gebliebenen Bretter gestapelt - und kann ich  mich an den beeindruckenden Anblick der längst von den Pferden bezogenen neuen Unterstände kaum gewöhnen. Jeden Tag überkommt mich wieder Begeisterung und es erscheint mir unwirklich, alles selbst projektiert und in Angriff genommen zu haben. 

meine lettischen Arbeitswunder
Auch die längst nicht mehr stabilen Zaunpfosten konnten dank meiner engagierten Sommer-Helferinnen, aber vor allem zweier aus Lettland empfohlener "Arbeitswunder" ausgetauscht werden. Immer wieder fuhr ich mit pfostenbeladenem Frontlader und auch dem alten Geländewagen weit hinaus auf die Pferdekoppeln, die alten Pfosten wurden an andere Pferdehalter verschenkt. Die beiden lettischen Arbeiter waren vom Erdbohrer sichtlich begeistert und schufteten mit entsprechendem Enthusiasmus, ich mußte sie immer wieder zu kleinen Pausen anhalten. Und sie schafften, was ich niemals für diesen Sommer für möglich gehalten hätte: alle Koppelzäune sind erneuert. 8 km Zaunmaterial, hunderte Pfosten, unzählige Zaungriffe und Isolatoren waren verarbeitet. Ich hatte damit gerechnet, mindestens noch den nächsten Sommer mit Zaunbau zu verbringen. 

gaaanz viel Holz

Der späte Sommer war erfüllt von Sonne und Wärme, als wolle er mich für den traurigen Frühling entschädigen. Trotzdem würde der Winter kommen und als die bestellte Fuhre Brennholz auf dem Hof ankam, hätte ich mich beim Anblick der bestellten Menge am liebsten geohrfeigt. Undenkbar, diesen riesigen Berg allein in die Scheune bringen zu können. Ich hoffte auf ein Wunder, einen zufällig rekrutierbaren Besucher - aber schon nach 4 Tagen hatte ich die über 100 Schubkarren voller Brennmaterial sauber aufgestapelt. 

Kaum fertig, hörte ich ein seltsames Geräusch bei den Pferden. Schon rannte ich los und mein Gefühl täuschte mich nicht. Bei der ukrainischen Stute Uteha war etwas zu sehen... vorsichtig näherte ich mich der
noch immer mißtrauischen und scheuen Pferdedame. Und tatsächlich schaute mich hinter ihrer Schulter ein lebenslustiges Hengstfohlen mit neugierigen Augen an. Trotz aller Routinekontrollen hatte ich  mit dem kleinen Lebewesen noch nicht gerechnet. Auch wenn  hier schon über 40 Fohlen zur Welt gekommen sind, bin ich über jedes wieder begeistert, als wäre es das erste... und der kleine Hengst entwickelt sich prächtig, ist lebenslustig und fühlt sich auf der riesigen Koppel sichtlich wohl. 


Uteha (aus der Ukraine) mit Nachwuchs

 

Erst in den letzten Tagen hat der Herbst Einzug gehalten, es wird empfindlich kühl, die in diesem Sommer zur Gewohnheit gewordenen Abende vor dem Haus, ob mit Besuchern oder allein, werden ins Haus verlegt. Und neue Aufgaben erwarten mich, ich habe in der Zwischenzeit ein Vorstandsamt der neuen estnischen Dachorganisation für alle Zucht- und Reitsportverbände angenommen und die ersten Termine im estnischen Landwirtschaftsministerium stehen an. Die neue Aufgabe ist mit stundenlangen Fahrten und langen Diskussionen verbunden, aber vor allem bietet sich für mich die Möglichkeit, Entscheidungen direkt beeinflussen und zu besserer Zusammenarbeit der Verbände untereinander beitragen zu können. 

Leni - uw -

Viel Zeit, zum wachen, lesen, lange Briefe schreiben, um zu Rilke zurückzukehren, wird mir in diesem Herbst wohl nicht bleiben. Und doch beobachte ich andächtig und innehaltend die nun abziehenden Wildgänse, begeistere mich für die auch in diesem Jahr für wenige Tage hier pausierenden Schreiadler, genieße den Duft der buntgefärbten Blätter und stehe nachts unter einem endlosen Sternenhimmel... der Sommer war sehr groß.